Die dreckige Wäsche wird immer zum Schluss gewaschen. Yasha Levines furiose Abrechnung mit dem Surveillance Valley setzt auf den letzten Seiten zum Rundumschlag an. Egal ob Edward Snowden, Jacob Applebaum, Roger Dingledine oder die Electronic Frontier Foundation: Für Levine spielen die Aktivisten rund um die Verschlüsselungssoftware Tor allzu naiv das Spiel von Geheimdiensten und Militärs mit, ohne sich kritisch mit der Herkunft ihrer favorisierten Technologien auseinander zu setzen. Levine, Sohn russischer Einwanderer und investigativer Journalist, hält sich hingegen an die Devise follow the money. Er beginnt sein Buch mit der bekannten Geschichte von Sputnik-Schock und Vietnamkrieg, die in den USA der 1960er-Jahre staatliche Forschungsgelder im ungeahnten Umfang mobilisierten. Er widmet sich der Advanced Research Projects Agency (ARPA), die auf dieser Basis als Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums gegründet wird.
Als Urszene der digitalen Überwachung fungieren in Surveillance Valley die strategischen Aktivitäten der ARPA zur Aufstandsbekämpfung im Project Agile. Sie beruhten auf einer Analyse des Militärgeheimdienstmanns William Godel: Angesichts der militärischen Fehler der französischen Kolonialmacht in Vietnam lautete dessen Schlussfolgerung, dass zukünftige counterinsurgency kleinteiliger, verdeckt, mit mehr High-Tech und psychologischer Kriegsführung operieren müsse. Noch vor Ausbruch des Vietnamkrieges baute die ARPA daher für das Pentagon gezielt Überwachungsstationen in Vietnam auf. Im Rahmen von Operation Igloo White wurden – weitestgehend ohne Erfolg – tausende Sensoren und Mikrofone im Dschungel platziert.
Entscheidend für Levines Begründung des ARPANETs ist die Reaktion des Pentagons auf die zivilgesellschaftlichen Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Die Strategien zur Aufstandsbekämpfung in Vietnam, die High-Tech, Überwachung, sozialwissenschaftliche und anthropologische Erforschung des Feindes kombinierten, wurden nun zur Überwachung der eigenen Gesellschaft eingesetzt. Der Vietnam-Krieg wurde so zum Labor der heimischen US-Überwachungsgesellschaft, bei der das Militär unter dem Decknamen CONUS Intel – Continental United States Intelligence – gegen Blumenkinder, Bürgerrechtsbewegung, Gewerkschaften und black power vorging. Dafür aufgezeichnete Daten wurden, wie Levine recherchiert hat, 1972 klammheimlich in das ARPANET geladen.
Neben Godel und weiteren Militärs führt Levine den Computerwissenschaftler und Psychologen J.C.R. Licklider ein, der zugleich Pionier des Interactive Computing und kluger Forschungsmanager war. Licklider übersah für die ARPA als Leiter des Information Processing Techniques Office Programme, die zur Verhaltensvorhersage und -kontrolle dienen sollten. Dies führte etwa zu einer anthropometrischen Vermessung der thailändischen Armee, die zugleich computerbasierte Persönlichkeitsprofile der Untersuchten erzeugte. Daraus resultierte eine Doppelstrategie: Was die wissenschaftlichen Auftragsforscher an Rechentechnik, Sozialprognostik und Software erfolgreich nutzten, würde wiederum für die Command & Control-Ambitionen des Militärs nützlich sein.
In diesem Sinne war das ARPANET eine Wette auf dual use, in der wissenschaftliches Teilen von Ressourcen den Weg für militärisch-geheimdienstliche Nutzungen bereiten sollte. Noch bevor die erste Computerverbindung des ARPANET zwischen Stanford und der UCLA am 29. Oktober 1969 gelang, protestierten am 26. September Studierende in Harvard gegen „computerisierte Menschenmanipulation“ und den „eklatanten Missbrauch von Sozialwissenschaften“ für Kriegszwecke. Ihr Protest richtete sich gegen das ARPANET und einen von Licklider mit Ithiel de Sola Pool 1968 gemachten Vorschlag namens Project Cambridge. Es sollte computerbasierte counterinsurgency auf Basis sozialwissenschaftlicher Datenerhebung möglich machen. Levine betont solche Elemente und unterschlägt die wissenschaftliche und technische Entwicklung, in der das ARPANET zwischen 1969 und 1972 v.a. ein experimentelles Forschungsnetz blieb.
Im Dschungel staatlicher Auftragsforschung, privatwirtschaftlicher Innovationsbereitschaft, Think Tanks, Geheimdiensten, Universitäten, Militär, Start-Ups und Aktivismus bleibt hier niemand unschuldig. So erzählt Levine, nach einem Einschub zur Privatisierung des Netzes in den 1980ern, die Frühgeschichte von Google als kalifornische Initiation. Sergey Brins und Larry Pages Forschungsarbeiten der 1990er-Jahre profitierten von der staatlich geförderten Digital Library Initiative, die in Stanford zu engagierter Auftragsforschung in Sachen Datamining führte. Brin und Page waren sich von Anfang an der Folgen ihrer Suchmaschine und anderer Datamining-Technologien wie etwa Gmail bewusst. Ohne maschinelle Überwachung des öffentlichen Internets oder privater Emails kein Datamining, und erst recht keine Vorhersagen von Nutzungsverhalten oder gar Terrorismus. Levine bemerkt, wie schnell die Googler nach den Anschlägen des 11. September 2001 zur datenbasierten Hilfe in der Terrorismusverfolgung bereit waren. Er betont die lange unterschätzte Rolle von Google als Auftragsnehmer staatlicher Agenturen, der sich wie andere Wettbewerber auf Regierungsausschreibungen bewirbt.
Die letzten Kapitel handeln von Levines seit 2014 auf pando.com publizierten Recherchen zur Finanzierung der Verschlüsselungs- und Anonymisierungssoftware Tor (The Onion Router). Edward Snowden, der Tor immer wieder zur Nutzung empfohlen hat, ist hier kein Held. Sondern ein rechtskonservativ sozialisierter, staatsferner Libertärer, der vor seinen Enthüllungen Auftragsarbeit im militärisch-geheimdienstlichen Überwachungskomplex erledigte. Für Levine glaubt er auch als Whistleblower immer noch an die typischen Befreiungsutopien digitaler Computernetzwerke, nur eben in verschlüsselter Form. Seinen Vorwurf gegenüber Snowden untermauert er mit Recherchen zur Finanzierung von Tor.
Warum förderten die DARPA (als Nachfolgeorganisation der ARPA), die US Navy und das State Department die Entwicklung und Verbreitung einer Software, die Internet-Aktivitäten schwerer nachverfolgbar macht? Die offensichtliche Begründung – Spione können sich online nur tarnen, wenn sie nicht die einzigen sind, die Verschlüsselung benutzten – führt zu einer widersprüchlichen Freisetzung der Anwendung zum allgemeinen Gebrauch. Levine kann zeigen, dass dies Online-Tarnen von Spionen initialer Anlass für die Entwicklung von entsprechender Verschlüsselungssoftware im Naval Research Laboratory bei Washington war. Die spätere aktivistische Umnutzung von Tor und seine Unterstützung etwa durch Google und Facebook ist in Surveillance Valley Teil der geheimdienstlichen Unterwanderung des Internets und außenpolitischer Ambitionen der USA. Auch die weltweite Unterstützung von Demokratisierungsbewegungen und Dissidentinnen folgt geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten.
Levines Nachweis der initialen Finanzierung Tors durch Pentagon, State Department und eine CIA-nahe Organisation trifft nicht nur den von der DARPA engagierten Tor-Gründer Roger Dingledine. Er lässt auch die Electronic Frontier Foundation – die 2004 einspringt, als Gelder erstmals fehlen – weniger staatsfern erscheinen, als sie sich selber gerne sieht. Die Geldmängel des Tor-Projekts behob erst eine 2006 beginnende Förderung durch das staatliche Broadcasting Board of Governors, das für Radiosender der USA wie Voice of America, Radio Free Europe/Radio Liberty und Radio Free Asia zuständig ist. Aus einer Software für die Tarnung von Spionen wurde so eine außenpolitische Waffe zur Internetfreiheit, die gerade im Arabischen Frühling hoch willkommen war. 2011 und 2012 flossen sechsstellige Fördersummen des Broadcasting Board of Governors, der US Navy und des State Departments. Julian Assange nutzte Tor zeitgleich intensiv zum Aufbau von WikiLeaks; staatliche Finanzierung ermöglichte den Verrat am Staat. Jacob Appelbaum, finanziert durch diverse Regierungskontrakte, half Assange dabei. Er stieg zum Posterboy der Tor-Community auf und wird nach erwiesener, jahrelanger sexueller Belästigung in der Aktivistenszene aus ihr ausgeschlossen.
Surveillance Valley ist immer dann am besten, wenn es anstelle von Zuspitzungen das ganz alltägliche staatlich-privatwirtschaftliche Geschäft mit digitalen Medientechnologien beschreibt. Tracking und tracing, Registrieren und Identifizieren: Wer Fördergeldern und technischen Innovationen folgt, rekonstruiert das Normalprogramm zwischen Silicon Valley und Bürokratien, Militarisierung und Paranoia inklusive. Die Verlierer dieses Spiels, bei dem Internetfreiheit in einem großen spy game zur Waffe wird, stehen dabei für Levine fest. Es sind wir, die wir das Internet ganz normal nutzen, um in unseren Handlungen überwacht, vorhergesagt und kontrolliert zu werden.
Yasha Levine: Surveillance Valley: The Secret Military History of the Internet: Public Affairs, New York 2018, https://surveillancevalley.com.
Dieser Text ist in einer deutlich kürzeren Fassung am 21. September 2018, S. 12 in der gedruckten FAZ erschienen.