Mit dem Sonapticon von Tim Otto Roth wird Musik sprichwörtlich nervös: Ein ganzer Raum verwandelt sich in ein Netzwerk von interagierenden Tönen, die grundlegende Vorgänge in Nervenzellen widerspiegeln, die uns zu fühlenden und denkenden Wesen machen. Der begehbare, immersive Klangraum aus miteinander kommunizierenden Lautsprechern macht es nicht nur möglich, in die Netzwerkstruktur einzutauchen, sondern zugleich kann man mit dieser über Töne und Geräusche interagieren. Wenn man ein Gefühl für die Abläufe bekommen hat, dann lässt sich mit dem Sonapticon auf völlige neue Art und Weise musizieren – eine Musik, die eine Idee der kognitiven Prozesse gibt, die in ihrer Komplexität für uns nach wie vor ein Geheimnis bleiben.
Theatre of Memory:
Transdisziplinäres Symposium zur Neuronästhetik
Tagungsbericht [crossposting von imachination.net]
Berlin, 26. und 27. Januar 2024
In Kontext der Ausstellung des Sonapticon von Tim Otto Roth im Tieranatomischen Theater
Theatre of Memory @ TAT Berlin 2024 from imachination projects on Vimeo.
Die Verbindung von Ästhetik und Komplexität wurde bereits in der Einführung des Sprechers des SFB1315 Matthew Larkum (HU Berlin) deutlich: Die vielen Variationen weitverzweigter Dendritenbäume von Nervenzellen im Gehirn lassen die Herausforderungen erahnen, neuronale Aktivität auf der Zellebene zu beschreiben. Explizit wandte er sich damit gegen vereinfachende Ansätze, die Neuronen zu einem Punkt reduzieren.
Panel 1
AKUSTISCHES RAUMGEDÄCHTNIS | In einem Publikumsexperiment ließ in der ersten Session Livia de Hoz (Charité Berlin) in ihrem Vortrag „Making sense of sound up (and down) the auditory circuit hierarchy“ deutlich werden, dass das, was wir im Gehörten zu erkennen glauben, immer auch von Hörerwartungen geprägt ist. Sie zeigte auf, dass derartige Erwartungen auch das Verhalten von Mäusen beeinflusst und wie bei diesen Tieren mit variierender Tonhöhe die Wahrscheinlichkeit sich verändert, dass bestimmte Neuronen in verschiedenen Gehirnbereichen feuern. Generell zeichnet sich die auditive Prozessierung im Gehirn durch ein komplexes Ineinanderwirken der verschiedenen Verarbeitungsebenen über meist wechselseitige Feedbackschlaufen aus.
Wie wir in komplexen akustischen Raumsituationen bestimmte Schallereignisse heraushören und deren Richtung verorten können, beschäftigt Bernhard Seeber (TU München) in seinen Simulationen im reflexionsarmen Raum. Er hob bei der Richtungsbestimmung die Bedeutung des Präzedenzeffekts hervor, bei dem es entscheidend ist, welches Ohr zuerst einen bestimmten akustischen Reiz erhält und somit sekundäre Reflexionen weggefiltert werden. Reflexionen helfen aber auch, uns einen akustischen Eindruck von der Dimension eines Raumes und der Beschaffenheit seiner Oberflächen zu vermitteln, um sich daran zu orientieren. Er stelle auch kurz eine in seiner Arbeitsgruppe entwickelt Simulationsumgebung vor, mit der sich die Audioneuronen-Aktivität des „Theatre of Memory“ in verschiedenen Räumen akustisch modellieren lässt.
In der von Katja Naie (Schering Stiftung) moderierten Diskussionsrunde betonten Livia de Hoz und Bernhard Seeber die Bedeutung von Bewegung und plötzlicher Veränderung des akustischen Umfelds für die Erschließung von räumlichen Gegebenheiten. Relativ schnell – innerhalb von 1,5–2 Sekunden – können sich Menschen akustisch auf neue räumlich Gegebenheiten einstellen, die sich durch die Veränderung des Reflexionsverhaltens auszeichnen. Verfahren, solche Reflexionen neuroakustisch auszublenden, setzt Seeber bei der Entwicklung von Cochlea-Implantaten als Hörhilfe ein, wenn die Algorithmen den Beginn eines akustisch relevanten Signals beispielsweise durch das Einfügen einer kurzen Lücke vorher verstärken. Bemerkenswert war, dass beide Panelisten keine persönliche aber eine wissenschaftliche Distanz zur Musik zeigten: „I try to keep away from music as it is a mine field“, offenbarte de Hoz, die eine Musik von Bach lediglich wegen der Variationen von Motiven in unterschiedlichen Tonlagen für ihre Mäuseexperimente einsetzt.
Panel 2
KÖRPER UND GEIST IN DER RÖHRE | Die Kunst hat sprichwörtlich beide Vorträge der zweiten Session gerahmt. John-Dylan Haynes (Charité Berlin) stellte in seinem Vortrag „Gehirn – Kunst und Freiheit“ das Publikum mit einem kopfstehenden Ausschnitt aus einem Turnergemälde auf die Probe: Er demonstrierte damit, dass ästhetische Urteile und Präferenzen höchst individuell sind, was sich auch in unterschiedlichen Aktivitätsmustern im Brain-Imaging niederschlägt. Er stellte detailliert das bildgebende Verfahren mittels Kernspintomographen vor, das nicht die Aktivität von Nervenzellen misst, sondern den Sauerstoffgehalt in den umgebenden Blutgefäßen. Das Verfahren hat deshalb nur eine räumlich und zeitlich beschränkte Auflösung, die nicht technisch sondern biologisch durch die Größe der Blutgefäße bedingt ist: Ein sogenannter Voxel umfasst die Aktivität von bis zu 1 Million Nervenzellen. Die sich aus den Voxeln zusammensetzenden Hirnbilder versteht er als „statistische Karten“, die Wahrscheinlichkeiten indizieren. Aus deren Muster lassen sich individuelle Wahrnehmungen beispielsweise von Bildern aber auch die Erkennung von künstlerischen Stilen ableiten und sogar vorhersagen. Diese Vorhersehbarkeit unterschied er klar von einem einseitigen Determinismus, wie er u.a. von Libet postuliert wurde. Freiheit gründet sich für ihn nicht auf einem Leib-Seele-Dualismus, gegen den er einen Monismus explizit in Stellung brachte. Freiheit gründet vielmehr auf einer Selbstbestimmtheit, die gerade auf der individuellen Aktivität im Gehirn, die durch Lernprozesse mit geformt wurde, beruht.
„What you see is what you get“ – diese Anspielung auf das frühe Versprechen von Computerbenutzeroberflächen übertrug der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Cornelius Borck (Universität Lübeck) auf die Neurowissenschaften: Durch die Gegenüberstellung von Beispielen aus der Geschichte der Gehirnstromaufzeichnung mittels des EEGs mit den jüngeren Verfahren des functional imaging des MRT zeigte er auf, dass die Anwendung verschiedener Technologien stets den Möglichkeitsraum des Darstellbaren determinieren. Die nie endenden Oszillationen im EEG brachen mit etablierten Vorstellungen wie dem Gehirn als einer Telegraphenstation. Gleichzeitig zeigte der Mitbegründer einer Critical Neuroscience die Kontinuität der mit einer neuen Technologie wiederkehrenden Versprechungen auf. Mit dem Verweis auf Bertolt Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ hob er auf die proleptische Struktur von Wissenschaft ab, die die Wirklichkeit an Modellentwürfe anpasst und nicht umgekehrt. Cornelius Borck rahmte bildlich seinen Beitrag mit einem Hirnschnittbild von Paul Flechsig aus dem Jahre 1894, das er zum Ende mit einer Adaption in einem Ölbild von Martin Kippenberger von 1994 kontrastierte. Gegenüber jüngeren Tendenzen einer Ontologisierung von Kultur in den Neurowissenschaften machte er somit Kunst stark als Herausforderung von Wissenschaftsreflexion.
Die von Felix Sattler (Tieranatomisches Theater) geleitete Diskussionsrunde war maßgeblich von dem Spannungsverhältnis von Dualismus versus Monismus geprägt. Cornelius Borck plädierte für eine dualistische Trennung zwischen Körper und Geist, nicht unbedingt weil diese ihn überzeugt, aber weil er schlichtweg die monistischen Erklärungsversuche für zu stupide hält. Er machte ferner auf eine soziale Dimension aufmerksam: Gedanken seien nicht im Gehirn zu verorten, sondern – insofern sie semantisch relevant sind – in unserer Gesellschaft und Sprachkultur. Als Replik auf Haynes Schlussüberlegungen verwies er darauf, dass diese kollektive Dimension auch die Frage nach der Freiheit beantwortet. Diese versteht er nicht als eine Sache des Glaubens, sondern der Zuschreibung: Damit Freiheit und Selbstbestimmung verwirklicht werden können, müssen kollektiv die Gelingensbedingungen geschaffen werden. Haynes quotierte die Beharrlichkeit der Trennung von Körper und Geist, dass diese möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass wir uns von Kindheit an den eigenen Körper erst einmal sehr indirekt erschließen müssen. Er verwies ferner auf die Unterscheidung der ethologischen Verhaltensforschung in proximale und distale Ursachen hin, die helfen könne, neurowissenschaftliche Diskurse zum Embodiment oder zur Kultur zu differenzieren. Auch er erkennt eine sprachliche Herausforderung bei der Interpretation von Hirnbildern: Die Unzulänglichkeit ist hier für ihn phänomenologischer Natur, da Phänomene für die Analyse mit Begriffen gelabelt werden müssen und nicht alle Nuancen von Erfahrungen sprachlich artikuliert werden können. Von technischer Seite sieht er beim functional imaging das Problem, dass es viel einfacher ist, etwas über den Ort auszusagen als über die zeitliche Dimension. Borck warnte abschließend, dass das daraus resultierende ikonische Paradigma, „da“ sei ein nachweisbarer physiologischer Prozess, zu einer Hirntheorie verführt, dass dieses „da“ auch die Ursache sei.
Panel 3
ÄSTHETIK DER SELBSTORGANISATION | Marina Mikhaylova (HU Berlin) fokussierte in ihrem Vortrag „Calcium Symphony: Conducting Neuronal Trafficking for Synaptic Plasticity“ mit den Synapsen die Schnittstelle neuronaler Signalübertragung. Sie zeigte die Komplexität des Zelltransportsystems auf, mittels dessen gezielt Stoffe vom Zellkörper der Nervenzelle in die Axone oder Dendriten geleitet werden. Bestimmte Stoffe und Strukturen können aufgrund der großen Distanzen aber auch lokal erzeugt werden, wie z.B. der Dornenapparat, der die sogenannten Dornenfortsätze bestimmter Dendriten stabilisiert. Eine Dirigentenfunktion in der Orchestrierung der Bildung und Stabilisierung dieses Dornenapparates, die die Plastizität der jeweiligen Synapse mit steuert und sich so auf die Lern- und Gedächtnisfunktion auswirkt, kommt dabei Kalzium zu.
Tim Otto Roth sprang für die erkrankte Beatrice de Gelder ein und legte das Konzept einer Neuronästhetik näher dar: Unter Ästhetik versteht er hierbei vornehmlich ein Paradigma oder Denkstil (Fleck). Ausgehend von einer von La Mettrie und Kant im 18. Jahrhundert mit angestoßenen Entwicklung zeigt er auf, wie sich erst in der jüngeren Geschichte ein Denkstil entwickelt, der Komplexität erst ab den 1930er und -40er Jahren in unterschiedlichen Disziplinen erst denkbar macht und wie dieser Denkstil unter dem Vorzeichen der Rückkoppelung letztlich in der Kybernetik kulminiert.
Das Thema Selbstorganisation bestimmte maßgeblich die Diskussion, die von Christoph Ploner (Charité Berlin) geleitet wurde: Mikhaylova wies darauf hin, dass bei den vielen Prozessen in der Zelle, die durch Selbstorganisation angetrieben werden, stets der Ort und der Zeitpunkt zentral für deren Entwicklung ist. Die Mikrobiologin plädierte in dem Kontext dafür, das Konzept der „Entfaltung“ (unfolding) einer näheren Betrachtung, z.B. aus entwicklungsbiologischer Sicht, zu unterziehen. Auf die Diskrepanz zwischen neurobiologischen Systemen und zelluläre Automaten angesprochen, machte Roth sich für die Automaten als prototypische Modelle für sich selbstorganisierende Systeme stark. Auch wenn diese nicht zwangsläufig biologische Prozesse abbilden, so schaffen sie gerade in ihrer Reduziertheit ein grundlegendes Verständnis von komplexen Netzwerkdynamiken.
Abendpanel
SPATIAL TURN & RESONANZ| Im Abendpanel entfaltete sich „ein selten gehörter feuriger Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft“ (Cornelius Borck) zwischen dem Musiker Jan St. Werner und dem Neurowissenschaftler und Sprecher des SFB 1315 Matthew Larkum, der selbst als Violinist u.a. im Sinfonie Orchester Berlin aktiv ist. Tim Otto Roth führte in seiner Anmoderation in die Besonderheit von Werners Werk ein, indem er das persönliche Erlebnis der Ausstellung „Space Synthesis“ in der Kunsthalle Baden-Baden schilderte: Optisch waren die Hallen des Ausstellungstempels maßgeblich entleert, doch ausgehend von drei Wellenfeldsynthese-Lautsprechern füllten sich die Räume mit einer begehbaren ätherischen Klanglandschaft. Jan St. Werner betonte, dass er sich Klang als etwas Beweglichem und Multiperspektivischem nähern möchte. Aber auch die Psychologie des Hörens und Psychoakustik ist von Bedeutung für sein klangkünstlerisches Schaffen, das er als Raumforschung versteht: Das Augenmerk legt er auf den Raum als Umfeld, das durch seine spezifischen Reflexionen und Resonanzen einem Impuls erst den charakteristischen Klang verschafft: „Kunst kommt zur Blüte, wenn sie beginnt mit ihrer Umgebung zu sprechen, wenn sie reagiert, wenn der Impuls eine Resonanz erzeugt“. Diese Resonanz versteht er maßgeblich auch als soziales Erlebnis im kollektiven Erleben und Mitfreuen an einer Musik.
Dem Verständnis von Kunst als Forschung stimmte Matthew Larkum zu, auch wenn er einwendete, dass er Kunst zu einem gewissen Grad offenlassen und in dem Sinne nicht verstehen wolle. Sowohl Wissenschaft als auch Kunst sieht er von der Neugierde getrieben, nicht Antworten sondern neue Frage zu finden. Dissonanzen wertete er in dem Kontext als positiv: „Dissonanz ist das, was uns die ganze Zeit antreibt.“ Dabei die richtige Balance zwischen Erwartung und Überraschung zu finden, darin liegt für ihn der Kern von Kreativität. Jan St. Werner hob anspielend auf Oswald Wiener die Bedeutung von Selbstreflexion hervor: Durch Formalisierungen können völlig neue Dinge entdeckt werden – gerade im Dialog mit anderen: „Was in der Kunst tatsächlich übersehen wird, ist dieses Verhandeln, also mit einander eigentlich zu versuchen, etwas auszuhandeln.“
Angesprochen auf eine früher Aussage, dass Musik nicht an sich komplex sei, sondern, dass man sie komplex hören wollen muss, kam Jan St. Werner auf Alvin Luciers „Silver Streetcar for the Orchestra“ (1988) zu sprechen, um deutlich zu machen, dass komplexe Hörerlebnisse mit ganz simplen Mitteln wie einer einzigen Triangel erzeugt werden können. Matthew Larkum schilderte die Konfrontation seines Kammermusikensembles mit der großen Fuge von Ludwig van Beethoven. Die Komplexität dieses Stücks allmählich zu verstehen, trägt für ihn die metaphysischen Züge einer Offenbarung.
Panel 4
NETZWERKE | Petra Ritter führte in ihrem Vortrag „Was können digitale Gehirn-Zwillinge?“ in aktuelle Forschungen im Bereich der Computational Neuroscience ein. Das von ihr und ihrem Team entwickelte Virtual Brain vernetzt die mikroskopische und makroskopische Betrachtungsebene und bietet die Möglichkeit durch die Zuhilfenahme aktueller Modelle, mathematischer Tools und persönlicher Daten eines Patienten personalisierte virtuelle Gehirne zu generieren. Diese „digitalen Zwillinge“ versprechen eine therapeutische Optimierung beispielsweise bei Parkinson- oder Epilepsiepatienten, um die Effekte von Hirnsonden vorab zu simulieren. 650 solcher digitalen Zwillinge werden aber auch für die Grundlagenforschung eingesetzt, um besser zu verstehen, wie Entscheidungsprozesse ablaufen. Die virtuellen Modelle werden aber auch aktuell in drei Berliner Museen zur Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt.
Der digitale Zwilling, so führte im Anschluss der Medienwissenschaftler Sebastian Gießmann aus, ist ein Beispiel für ein Netzwerk, worunter er hybride, interkonnektive und unscharfe Quasi-Objekte versteht, die Menschen, Dinge, Zeichen, Institutionen und Räume integrieren. Ausgehend von dieser Begriffsdefinition gab er beginnend mit René Descartes Gehirndarstellung und Denis Diderot „D’Alemberts Traum“ einen kurzen Überblick über die Netzwerkgeschichte. Dabei betonte er im Hinblick auf die Fragen einer Neuronalen Ästhetik die Verbindungen von Neurophysiologie und digitaler Medientechnik in der Kybernetik, aber auch die Verbindungen von Natürlichem und Technischem in den Diskussionen der 1990er Jahre, die ständig ineinander übersetzt und somit ununterscheidbar wurden. Am Ende seines Vortrags stand die Frage, ob wir gegenwärtig mit maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz eine neue Schicht der Netzwerkgeschichte erleben, die sich weniger durch eine Konjunktur des Neuronalen auszeichnet, als vielmehr dadurch, dass die zentralen Akteure nicht mehr in der Wissenschaft, sondern in den globalen Datenindustrien zu finden sind.
In der von Peter Bexte moderierten Diskussion wurden verschiedene Aspekte aus beiden Vorträgen aufgegriffen. Nach dem kritischen Einwurf von Cornelius Borck, dass der digitale Zwilling aufgrund seiner Öffentlichkeitswirksamkeit wohl auch den Zweck habe, Fördermittel für die Hirnforschung zu akquirieren, warf Christoph Ploner aus medizinischer Sicht einen Blick in die Zukunft: Lässt der digitale Zwilling nicht gerade für körperlich extrem eingeschränkte Patienten das Digitale zu einem realen Schauplatz werden bis hin zu einer möglichen Fortexistenz im digitalen Raum? Dass die Medizintechnik z.B. in den von Bernhard Seeber angeführten Cochlea-Implantaten bereits sehr weit in der Entwicklung von Neuroprothesen ist, wurde auch von Petra Ritter bestätigt, dennoch wies sie darauf hin, dass es sich beim digitalen Zwilling um ein Modell handelt, d.h. es beruht auf Reduktion und Abstraktion. Damit kann es helfen, die Realität zu verstehen, aber kann diese nicht ersetzen. Hier schloss auch Tim Otto Roth an, der die von Gießmann gestellte Frage nach einer Neuronalen Ästhetik aufgriff. Das Perzeptron als mathematisches Modell eines neuronalen Netzwerkes kann nie die Komplexität einer biologischen Intelligenz erreichen. Das bestätigt auch Gießmann im Hinblick auf aktuelle mediale Netzwerkgrammatiken. Die Reduktion, die im Moment in den Medien im Hinblick auf künstliche Intelligenz zu beobachten ist, ist in Wissenschaft und Medizin undenkbar.
Panel 5
MODELL & MINIMALNETZWERK | David Owald (Charité Berlin) gab in seinem Vortrag „Wie Netzwerkprinzipien Schlaf und Erinnerungen in der Fliege ermöglichen“ Einblicke in seine aktuelle Forschung zur Gedächtniskonsolidierung bei der Fruchtfliege (Drosophila). Aufgrund der bereits erfolgten Kartierung des Gehirns aus 120 bis 150.000 Neuronen können bestimmte Reize recht gut lokalisiert werden. Seine Arbeitsgruppe konnte so beispielsweise aufzeigen, wie appetitive Signal in einem vergleichsweise minimalistischen Netzwerk von rund 40 Neuronen verarbeitet werden. Eine Speicherung dieser Reize findet im Schlaf statt. Man vermutet, dass dafür unter anderem ein Ring aus sechs Neuronen verantwortlich ist. Die Neuronen feuern im Schlaf synchron in einem 1 Herz-Rhythmus und werden von einem inhibitorischen Netzwerk überlagert, das Reize von außen ausschaltet.
Während die Arbeitsgruppe von David Owald direkt am lebenden Organismus arbeitet, warf der Wissenschaftshistoriker Max Stadler in seinem Beitrag „Zelle, Material, Moderne: Modellwelten nervöser Biophysik“ ausgehend vom Hodgkin-Huxley-Modell (1952) einen Blick zurück in die Geschichte der Neurowissenschaft. Dabei hebt er heraus, dass die technischen Erfahrungen, die die beiden Forscher Hodgkin und Huxley im Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, durchaus mitgeholfen haben, Methoden zu entwickeln, die es erlaubten, das Aktionspotential von Neuronen zu messen. Allerdings waren es nicht alleine die technischen Kenntnisse der Forscher, sondern eine Vielzahl von Forschungen im Bereich von Elektrizität, Oberflächenbeschaffenheit und zu Schaltkreisen in den 1920er und 1930er Jahren, sowie die Entdeckung von Riesenaxonen bei Tintenfischen die letztendlich die Entwicklung des Hodgkin-Huxley-Modells ermöglichten. Anhand zahlreicher Beispiele und Entwicklungen zeichnet Stadler diesen Prozess in seinem Vortrag nach.
In der anschließend von Christoph Ploner geleiteten Diskussion stand einerseits die Frage im Zentrum, welchen Einfluss sowohl technische Neuerungen als auch alltägliche Entwicklungen auf die Forschung haben. Dabei wurde betont, dass eine Technologie alleine keine Weiterentwicklung im Feld der Wissenschaft bewirken kann, da es immer der menschlichen Kreativität bedarf, um eine neue Technologie auch sinnvoll in die Forschung einzubringen. Andererseits stellte John-Dylan Haynes die provokante Frage, ob Hirnforscher*innen sich nicht immer mit dem eigenen Scheitern konfrontiert sehen, da das Gehirn so komplex ist, dass allgemeine Aussagen nicht getroffen werden können. Hier bedarf es daher einer besonderen Reflexion der Wissenschaftler*innen, um ihren Gegenstand immer wieder neu zu sehen und Forschungen zu betreiben, die die eigenen Grundannahmen hinterfragen. Dem konnte David Owald nur zustimmen: „Das größte Glücksgefühl tritt dann ein, wenn man sich selbst widerlegt […]. Das ist der Moment, wo man was Neues gefunden hat.“
Eine Führung der beiden Kuratoren Thomas Schnalke und John-Dylan Haynes in der Ausstellung Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst im Medizinhistorischen Museum der Charité bildete einen gelungenen Abschluss für das Symposium.
Dank
Das Symposium wurde als Networking Event von der Stiftung Charité gefördert.
Freitag, 26. Januar 2024
13:30
Matthew Larkum, Berlin: Einführung
14:00
Panel 1
Livia de Hoz, Berlin: Making sense of sound up (and down) the auditory circuit hierarchy
Bernhard Seeber, München: From acoustic rooms to neurons and back
Moderation: Katja Naie
15:30
Panel 2
John-Dylan Haynes, Berlin: Wissenschaft, Kunst, Freiheit
Cornelius Borck, Lübeck: „What you see is what you get“
Moderation: Felix Sattler
KAFFEEPAUSE
17:30
Panel 3
Marina Mikhaylova, Berlin: Calcium Symphony: Conducting Neuronal Trafficking for Synaptic Plasticity
Beatrice de Gelder, Maastricht: NN
Moderation: Christoph Ploner
PAUSE mit Gelegenheit zu einem Ausstellungsbesuch im Tieranatomischen Theater
20:00
Abendpanel
Symphonische Komplexität. Tim Otto Roth im Gespräch mit Matthew Larkum und Jan St. Werner
Samstag, 27. Januar 2024
9:30 h
Panel 4
Petra Ritter: Was können digitale Gehirn-Zwillinge?
Sebastian Gießmann: Lebendige Netzwerke: Kulturtechniken, Medien, Wissen
Moderation: Peter Bexte
11:00h
Panel 5
David Owald: Wie Netzwerkprinzipien Schlaf und Erinnerungen in der Fliege ermöglichen
Max Stadler: Zelle, Material, Moderne: Modellwelten nervöser Biophysik
Moderation: Christoph Ploner
PAUSE mit Gelegenheit zu einem Ausstellungsbesuch im Tieranatomischen Theater
ABSCHLUSS
Ausstellungsrundgang mit den Kuratoren Thomas Schnalke und John-Dylan Haynes in der Ausstellung Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst im Medizinhistorischen Museum der Charité