Vier Thesen zur Plattformgesellschaft (1)

Michael Seemann und ich haben im Vorfeld der re:publica 2015 in Köln und Berlin, online und offline intensiv diskutiert: Gibt es so etwas wie die Plattformgesellschaft schon? Im „Neuen Spiel“ geht es bereits um den Aufstieg der Plattformen, wie man in Kapitel 4 und 6 nachlesen kann. Und sowohl in den Science and Technology Studies als auch in der Medienwissenschaft wird schon seit einigen Jahren über Plattformen als neue Organisationsform und Ort der Verbindung von vielen mit vielen nachgedacht, also über Interaktion im Modus many-to-many. Ich selber bin durch meine Forschung zur Geschichte der Kreditkarte auf Plattformökonomien und die Schaffung zweiseitiger Plattformmärkte gestoßen, dazu kommt ein medientheoretisches Interesse.

Aus unseren Diskussionen heraus haben wir in unserem re:publica-Vortrag „Von der Netzwerk- zur Plattformgesellschaft“ vier Thesen entwickelt. Hier die Übersicht dazu:

  1. Plattformen sind Selektionsprozesse.
    Die Plattformgesellschaft wird getrieben von den Netzwerkeffekten potentieller Selektionen. [unser Beispiel dazu: die Geschichte der Telefonvermittlung]
  2. Plattformen setzen Standards.
    Die Plattformgesellschaft beruht auf Plattformökonomien, die Vertrauen, Kontrolle und Standardisierung miteinander kombinieren. [unser Beispiel dazu: die Geschichte der Kreditkarte]
  3. Plattformen sind Kooperationsbedingungen.
    Die Plattformgesellschaft braucht Plattformen, um Kooperation zu organisieren. Generativität wird eingeschränkt, bleibt aber bei zentralen und dezentralen Plattformen möglich. [unser Beispiel dazu: Apple vs. Linux]
  4. Plattformen reduzieren Selektionsoptionen.
    Die Plattformgesellschaft organisiert sich über sich zunehmend ausdifferenzierende und einander nicht rivalisierende Plattformen. [unser Beispiel dazu: die Entwicklung der Social Media]

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Bevor ich auf die erste These im Detail eingehe, noch eine kurze Warnung. Diagnosen zu „Bindestrichgesellschaften“ sind immer riskant, aber wir denken, dass sich ein Nachdenken über die Verschiebungen von der Netzwerkgesellschaft zur Plattformgesellschaft lohnt. Auch aus diesem Grund setzt unser Vortrag bei der klassischen Diagnose von Manuel Castells zum Entstehen der Netzwerkgesellschaft an. Castells‘ Einsatz in The Rise of the Network Society (1996, 2. Auflage 2000), in dem das Netzwerkunternehmen zur prägenden Organisationsform sozialer und kommunikativer Praktiken erhoben wurde, zielte auf eine globale Makroebene. Das ist für mich mittlerweile zwar befremdlich geworden, da das Konzept des Netzwerks so unnötig universalisiert wird. Aber es ist auch nützlich für den Blick auf die Plattformgesellschaft, der vor allem deswegen möglich geworden ist, weil es global genutzte digital-vernetzte Plattformen gibt: von den Betriebssystemen bis zu den jeweils dominanten Social-Media-Anwendungen – ganz egal, ob es sich um Facebook, vkontakte oder Weibo handelt.

Manuelles Switchboard der New Haven District Telephone Company. Replik und Blaupause des ersten Modells aus dem Jahr 1878
Manuelles Switchboard der New Haven District Telephone Company. Replik und Blaupause des ersten Modells aus dem Jahr 1878 (Die Verbundenheit der Dinge, S. 184)

Wir haben auch kurz überlegt, ob wir nicht besser auf einer ganz kleinen Ebene ansetzen sollen. Etwa bei der Organisation von politischen Bewegungen als – möglichst egalitärer, leicht zugänglicher – Plattform. Historisch spricht einiges dafür, denn diese Nutzung des Plattform-Begriffs hat sich von Nordamerika ausgehend seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Und ich denke, dass wir mehr denn je Mikroanalysen von Plattformhandeln und der
Reflexivität der Akteure, die sich durch eine Plattform versammeln, brauchen. Dazu gehören auch Gedanken zur Neutralität, Zugänglichkeit und Regulierung von Plattformen. Aber der Ausgangspunkt unserer Beobachtungen ist zunächst ein anderer: Netzwerkgesellschaften entwickeln sich zu Plattformgesellschaften, wenn sie ihre soziale Ordnung über digital-vernetzte Plattformen stärker normalisieren, regulieren und auch standardisieren.

Das heißt auch, dass sich die andauernden Kontroversen um die Gestaltung der digitalen Lebenswelt als ein Übergang von der Netzwerk- in die Plattformgesellschaft verstehen lassen. Nach dem Kontrollverlust kommen Kontrolle und Regulation zurück. Konnte man sich in Entwürfen zur Netzwerkgesellschaft noch der Illusion hingeben, dass ein freier und offener Zugang zum Internet quasi automatisch soziale Utopien der Vernetzung real werden lässt, wird in der Plattformgesellschaft der Streit um die Modi von Kontrolle, Regulation und Netzfreiheiten immer lauter. Einen der Gründe für diesen kontroversen Sound der Plattformen haben wir im Vortrag kurz angesprochen. Netzwerke verstecken ihre bürokratische Arbeit in wenig sichtbare Netzwerkprotokolle, mit ihrer wachsenden Relevanz werden diese als Plattform sichtbar. Und während sich für die sozialen Folgen und Charakteristika von Netzwerkprotokollen zumeist nur kleinere Kreise von Entwicklern und Standardisierungsgremien interessiert haben, wird über Google StreetView, die Facebook-Timeline und die Auswirkungen von Uber und AirBnB gesamtgesellschaftlich gestritten.

1. Plattformen sind Selektionsprozesse.
Die Plattformgesellschaft wird getrieben von den Netzwerkeffekten potentieller Selektionen.

Warum werden einzelne Plattformen so dominant, dass sie uns als Makroebene, als Teil unserer (nicht nur) digitalen Umwelt und als Kooperationsbedingung erscheinen? Michael hat das im Vortrag anhand der historisch kontingenten Netzwerkeffekte der Telefongeschichte erklärt und noch einmal in einem Blogbeitrag erklärt. Ich habe selber über die unbestimmten Nutzungsformen des Telefons – soll es alle mit alle verbinden, als Vorform des Radios funktionieren, oder das Gespräch von einer Person mit einer anderen ermöglichen? – in „Die Verbundenheit der Dinge“ geschrieben. (Wer es nachlesen will, greife zu Kapitel 5 „Stimmen und Telefone um 1890“).

Almon Brown Strowger: Automatic Telephone-Exchange. Patentzeichnung, 1891. (Die Verbundenheit der Dinge, S. 188)
Almon Brown Strowger: Automatic Telephone-Exchange. Patentzeichnung, 1891. (Die Verbundenheit der Dinge, S. 188)

Die Entscheidung für die Vernetzung von Gesprächen zweier Personen setzte den Selektionsprozess in Gang, der in den USA über einige Umwege hinweg eine doppelte Plattformbildung bewirkte. Zum einen die Etablierung von AT&T gegen die unabhängigen Telefongesellschaften, zum anderen die durch viel Lobbying beförderte politische Regulierung für einen „Universal Service“. In Ländern wie Deutschland, deren telefonische Vernetzung durch zentrale politische Steuerung aufgebaut wurde, ist die Entwicklung des Telefondienstes zur Plattform sogar geradliniger und mit einem hohen Anteil staatlicher Kontrolle verlaufen. An der gerade anfangs ungleich dynamischeren US-amerikanischen Telefongeschichte, in der viele Vernetzungsaktivitäten dezentral stattfinden, lässt sie sich das Plattform-Werden aber besser zeigen.

Wenn noch nicht klar ist, welche Medienpraktik die naheliegendste Nutzungsform einer neuen Technik darstellt, werden die sozio-ökonomischen und technischen Aushandlungsprozesse umso eher als Arbeit an Kontrolle, Normalisierung, Standardisierung und Regulierung erkennbar. Plattformen wie AT&T und die politische Verpflichtung auf „Universal Service“ entstanden, weil sie sich als Organisationsform für die potentiellen Selektionen bewähren konnten. Sprich: Die Antwort auf die Frage, wie man Sprachverbindungen in den ganzen USA realisieren kann, um gesamtgesellschaftlich von Netzwerkeffekten zu profitieren, wurde in Gestalt eines Quasi-Monopols gegeben. Oder, in Michael Seemanns Worten:

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YouTube-Thread, Google+-Post von Martin Lindner, verstreut auf Facebook).  To be continued …

2. Plattformen setzen Standards.
Die Plattformgesellschaft beruht auf Plattformökonomien, die Vertrauen, Kontrolle und Standardisierung miteinander kombinieren.