Noch ist es ganz frisch erschienen, Tobias Harks‘ und Sebastian Vehlkens Buch zu den „Media and Mathematics of Dynamic Networks“. Es dokumentiert die Beiträge des Berliner Blankensee-Kolloquiums aus dem Jahr 2012. Tagung und Band sind konzeptionell gegen eine Trennung von Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften ausgerichtet – das Konzept der Nachbarschaftstechnologien soll selber interdisziplinäre Nachbarschaften ausloten.
Dabei wäre die gemeinsame Sprache zuerst eine mathematische, geprägt von Modellierungen und Simulationen, die Agentenverhältnisse in „kleinen“ Interaktionen mobilisiert. Spiel- und netzwerktheoretische Ansätze aus den „hard sciences“ bilden dafür den Ausgangspunkt. Meinem ersten und sehr vorläufigen Lektüreeindruck nach gehen gerade die kultur- und medienwissenschaftlichen Beiträge des Bandes über diese gemeinsame Basis weit hinaus. Sie widmen sich vielmehr Mikrologiken des Vermittelns in ebenso relationalen wie dynamischen nachbarschaftlichen Verhältnissen. Wie sehr diese die Grenzen der Berechenbarkeit herausfordern – und vielleicht sogar sprengen -, kann man nun in dem mit einem wunderbaren Cover ausgestatteten Buch nachlesen.
Das Inhaltsverzeichnis lässt sich auf der Homepage des diaphanes-Verlags einsehen. Mein eigener Beitrag zur Mediengeschichte der Kreditkarte ist leider erst nach dem Blankensee-Kolloquium entstanden – mit dem Buch in den Händen würde ich mir wünschen, dass er näher entlang der gemeinsamen mathematischen Sprache argumentiert. So steht er in paradoxer Konjunktion neben Dirk Helbings Text zur selbstregulierenden und partizipatorischen Marktgesellschaft, der die Gründung von neuen Institutionen für eine Ökonomie 2.0 vorschlägt. Helbing wie auch Manfred Füllsack thematisieren dabei in ihren Artikeln Kooperationsverhältnisse und Gemeingüterfragen, und nutzen dafür netzwerkanalytische Mittel:
„Holistically seen, cooperation could increase its own propability, driving social dynamics from rather centralistic hierarchical neighborhoods which foster emerging cooperation towards more de-central heterarchical neighborhoods which promote its stability“ (Füllsack, Neighborhood and Social Security, S. 164).
Besonders deutlich fällt die Kritik an gängigen wirtschaftswissenschaftlichen (Agenten-)Modellierungen des zweckrationalen homo oeconomicus – und dem Versagen der Wirtschaftswissenschaft in der Finanzmarktkrise – bei Dirk Helbing aus. Die Wende vom homo oeconomicus zum homo socialis, mitsamt einer Wende zur „Sozionomik“ als neuer Disziplin, wird hier aus neueren spieltheoretischen Forschungen zum Gefangenendilemma hergeleitet (S. 120f., unter Bezug auf Grund et al. „How Natural Selection Can Create Both Self-and-Other-Regarding Preferences, and Networked Minds„). Die evolutiv angelegten Simulationen zum kooperativen Verhalten stellen zwar, wie schon bei Robert Axelrod, die anthropologischen Grundlagen nicht wirklich zur Debatte. Die spieltheoretischen Vorgehensweisen gelangen aber offenbar hinsichtlich des „Rätsels der Kooperation“ auf der Makroebene zu vergleichbaren Befunden wie Michael Tomasello in seiner experimentellen Forschung, und gehen weitestgehend vom ‚Menschen‘ als kooperativer Spezies aus.
Die freundschaftliche systemische Emergenz der wechselseitigen Unterstützung von Agenten lässt sich also auch als Frage an uns selbst verstehen: Was sind die anthropologischen und medientechnischen Bedingungen für das Entstehen von „Kooperation“ in nachbarschaftlichen Interaktionen? Die operativ-systemische Beobachtung und Simulation solcher Wechselseitigkeitsverhältnisse ist weit fortgeschritten, eine kulturtechnisch informierte Medienanthropologie der Kooperation aber steht erst am Anfang.
Disclaimer: Dies ist ein Weblogeintrag. Erste Gedanken sind erste Gedanken und noch keine Forschungsergebnisse. Einwände und Korrekturen gehören zum Spiel.