Am Grund der Zahlung

Congress of the Swiss Sociological Association 2024 Vulnerable Societies

Mein Beitrag fragt im Rahmen des Panels „Digital Payments: Neue Vulnerabilitäten?“ nach – mithin entscheidenden – Umschlagpunkten und Leerstellen in der Medien- und Sozialgeschichte des digitalen Bezahlens. Techno-ökonomische Netzwerke werden, wie Michel Callon (1991) gezeigt hat, im Laufe ihrer Entwicklungsverläufe irreversibel. Mich interessiert diese Produktion von Irreversibilität in den mehrfachen Digitalisierungen des Bezahlens.

Ab wann und für welche Praxisgemeinschaften kann ein Bezahlsystem als universell gelten? Lässt sich diese Universalität verstetigen, oder müssen wir mit immer neuen spezialisierten Infrastrukturen rechnen, die fortwährend neue Tokens (O’Dwyer 2023) produzieren? Wem obliegt die Übersetzung von neuen Formen des Datengelds, und wie wird es mit Plattformökonomien verknüpft? Auf welche Formen von gesellschaftlicher Vulnerabilität antworten die Versicherheitlichungen digitaler Werte? Und welche individuellen Formen von Verletzlichkeit entstehen durch sie?

Einsatzpunkte des Vortrags sind u. a. die Standardisierung der Kreditkarte parallel zur Aufhebung des Goldstandards 1971, die konstitutive Absenz von Bezahlstandards im frühen World Wide Web der 1990er Jahre (und der damit einhergehende Aufstieg von Werbenetzwerkwerken als Geschäftsmodell), der Aufstieg von PayPal aus dem Zusammenbruch der Dotcom-Blase heraus und die Konjunktion des Bitcoins mit der Finanzkrise von 2008.

Konstitutive Veränderungen der Medien des Mediums Geld, so die Annahme, indizieren mehr als ein Ringen um Marktanteile und Zugang zu sozio-ökonomischer Handlungsfähigkeit und Macht. Sie sind Arbeit am sozioökonomischen Gefüge von Gesellschaften weltweit, zu dem man in Anschluss an Bruno Latour (2002: 21) sagen kann: Je mehr Infrastrukturen, je mehr datenintensive Vermittlungen, umso realer – aber auch verletzlicher – wird finanzmediale Wirklichkeit.

Jede Vermittlung zählt. Besonders deutlich wird dies in der biometrischen Zurüstung neueren Datengeldes, das eine massive Personalisierung von Werten durch und mit Körperzeichen vornimmt. In dieser Kombination von Konto, Körper und Person zeigt sich die mediale Dimension von Bezahlsystemen als Klassifikationssystemen, durch die elementare Differenzen von class, race und gender konstituiert und – potenziell – irreversibilisiert werden.

Digital Payments: Neue Vulnerabilitäten?
11. September 2024, 13.15–14.45 Uhr
Raum 02.O.03
FHNW Campus Muttenz / Basel

Mit Beiträgen von Markus Unternährer, Antonia Steigerwald, Tatjana Graf, Carola Westermeier, Marek Jessen und Sebastian Gießmann

  • Callon, Michel. „Techno-Economic Networks and Irreversibility“. In A Sociology of Monsters? Essays on Power, Technology and Domination, herausgegeben von John Law, 132–161. London; New York: Routledge, 1991.
  • Latour, Bruno. „What is Iconoclash. Or is There a World Beyond the Image Wars?“ In Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, herausgegeben von Bruno Latour und Peter Weibel, 14–37. Karlsruhe; Cambridge, MA; London: ZKM; MIT Press, 2002.
  • O’Dwyer, Rachel. Tokens. The Future of Money in the Age of the Platform. London; New York: Verso, 2023.

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Die Kreditkarte ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Sie gehört zum Erbe der US-amerikanischen Konsumkultur und der „dreißig glorreichen Jahre“ des westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber trotz neuer Finanztechnologien im mobilen digitalen Bezahlen bleibt sie weltweit das führende Zahlungsmittel.

Alte Kreditkarten und neue Apps mischen sich dabei auf paradoxe Weise: Sechs Jahre nach dem Start von Apple Pay als smartphone-basiertem Bezahldienst bot Apple 2020 in Zusammenarbeit mit Goldman Sachs eine eigene physische Kreditkarte an. Nun mit einem Smartphone-Wallet gekoppelt, löste sie eine Neugestaltung der bestehenden Plastikkarten aus. Die schon länger obsolete, leichte Erhöhung der persönlichen Daten, die einst durch Papierabdruck die Nutzung von Kreditkarten per Formulardurchschlag erlaubt hatte, ist verschwunden. Das soziale Prestige der Kartennutzer:in äußert sich jetzt weniger darin, mit ihrem guten Namen zu bezahlen, sondern in den Werten der Walletdaten auf ihrem mobilen Bildschirm. Namen, Kreditkartennummer und weitere persönliche Daten sind in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Rückseite der Karten gewandert. Nach der Covid-19-Pandemie ist zudem die persönliche Unterschrift auf Rechnungen deutlich seltener geworden.

 

Mit dem Wechsel im Kartendesign reagiert die Banken- und Kreditkartenindustrie auf die von Big Tech gesetzten Maßstäbe im digitalen Bezahlen. Aber kann sie mit den nicht-westlichen Innovationsdynamiken von Finanztechnologien noch Schritt halten? Chinesische Unternehmen wie Alibaba und Tencent haben die bank-basierte Kartenform des digitalen Bezahlens durch app-basierte Dienste übersprungen. Vergleichbares gilt für die Entwicklung des mobilen Bezahlens in afrikanischen Ländern. Warum aber halten sich Kreditkarten trotzdem hartnäckig als Bezahlmittel und Geschäftsmodell, das sogar neue Allianzen mit der Welt der Krypto-Assets eingehen kann?

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Protokollieren und Formatieren: Zur Mediengeschichte des credit reports

Der Beitrag folgt protokollarischen Schreibpraktiken, die zur Ausbildung der nordamerikanischen Kultur des Kreditgebens beigetragen haben. Er rekonstruiert die institutionelle und medienpraktische Entstehung des credit report im 19. Jahrhundert. Auf dessen narrativen und klassifizierenden Bewertungen von Kreditwürdigkeit beruht, so die These, die Konjunktur des prestigeträchtigen Bezahlens mit Kreditkarten im 20. Jahrhundert. Die protokollierenden Praktiken – in der Kreditauskunft, aber auch in der Registratur von Transaktionen – führen darin zur Ausbildung von fixierenden Karten- und Datenformaten und Standardisierungen. Diese werden wiederum für die Finanzmedieninteraktion protokollarisch, d.h. vorschreibend wirksam.

Erschienen im Open Access (PDF) in dem von Peter Plener, Niels Werber und Burkhardt Wolf herausgegebenen Buch Das Protokoll.