Dieser Tage habe ich mit Michael Seemann intensiv diskutiert – über das, was eigentlich aus Manuel Castells‘ Begriff der Netzwerkgesellschaft geworden ist. Erst hieß unser Leitmotto „Netzwerkgesellschaft revisited“, aber im Laufe der Facebook-Chats und Etherpad-Sessions stellte sich heraus, das „Von der Netzwerkgesellschaft zur Plattformgesellschaft“ der viel bessere Arbeitstitel ist. Denn um Plattformen als neue Akteure geht es in Michaels Buch „Das neue Spiel„, aber auch in meiner aktuellen Forschung liegt der Schwerpunkt auf der Frage der „platformativity“ (Joss Hands), und auf ihrer Rolle die Nutzungspraktiken auf, mit und durch digital-vernetzte Plattformen.
Uns interessiert aber nicht nur der aktuelle „Plattformkapitalismus“ – den ich historisch anhand einer Mediengeschichte der Kreditkarte und ihrer „zweiseitigen Plattformmärkte“ aufarbeiten will -, sondern vor allem die besonderen und neuen Bedingungen, die mit Plattformen als medialer Umgebung einhergehen. Also kein Quasi-Monopolistenbashing im aktuellen Internet, sondern die sozialen, kulturellen und politischen Transformationen, die „Plattformen“ als Kooperationsbedingungen darstellen. Offenbar lassen wir uns nur allzu gern auf „platformativity“ ein, auch als eine Stabilisierungs- und Übersetzungsoption sozialer Beziehungen. Neue, disruptive Effekte mit einbegriffen (siehe Uber und AirBnB). Michael hat das in einem Blogeintrag mal mit der aktuell brennenden Frage der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zusammengebracht – mit der Ahnung „Neuer Cryptowars“ und der „Plattformdämmerung“, die für überwachungsstaatliche Akteure eintreten kann, wenn populäre Apps Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für breite Nutzerschichten zur Verfügung stellen.
Mitunter ist die Theoriebildung aber auch den jüngsten Eskalationen weit voraus gewesen. Wer das nicht glauben will, der greife zu einer Science and Technology Study, die bereits im Jahr 2003 durch Peter Keating und Alberto Cambrosio publiziert worden ist. Sie trägt den schönen Titel Biomedical Platforms. Realigning the Normal and the Pathological in Late-Twentieth-Century Medicine und wartet mit einer entscheidenden Diagnose auf, die weniger auf den Prämissen digitaler Medien basiert, als auf der Untersuchung von Arbeitsprozessen in Krankenhäusern. Die (biomedizinische) Plattform verstehen beide als „specific configuration of instruments and individuals that share common routines and activities, held together by standard reagents“ (Keating/Cambrosio 2003: 23). Dabei kommt Plattformen eine regulierende Kraft für Interaktionen und soziale Beziehungen zu, die nicht statisch ist, sondern fortwährend neu verhandelt wird. (This rings a bell, doesn’t it?) Eine der Pointen von Keating und Cambrosio ist die sozial- und medientheoretische Verschiebung des Netzwerkkonzepts. Unter Plattformbedingungen, egal ob mit strikter Kontrolle oder liberalen soziotechnischen Standardisierungen, entstehen Netzwerke gewissermaßen unter regulativen Bedingungen, die sie selber modifizieren. Oder, anders gesagt:
„Insofar as they embody regulations and conventions of equivalence, exchange, and circulation, platforms are not simply one among many forms of coordination that include networks or, rather, they account for the generation of networks or, at the very least, they are a condition of possibility for the very existence and transformation of networks.
The intermediaries that stabilize networks are produced and reproduced on the platform. Platforms supply networks with conventions, generate novel entities, and entrench them in clinical routines.“ (Keating/Cambrosio 2003: 324)
Damit sind die theoretischen Spielregeln für soziotechnische Netzwerkbildungen neu gesetzt, und auch jüngere Formen der Netzwerkgesellschaft erscheinen kaum denkbar ohne Akteure, die gewissermaßen Handlungsräume und -optionen auf diese Art und Weise „zuspitzen“. Die Plattformen der Social-Media-Welt, so kann man vermuten, sind eine Fortsetzung älterer Registraturprinzipien von Praktikten, in beschleunigter und radikalisierter Form. Ein bürokratisches Element auch digital-vernetzter Medien, im dem Selbstregistratur und die formierenden und regulativen Kräfte von Plattform-Interaktionen und -funktionalitäten immer neu austariert werden. Plattformen sind zu typischen bürokratischen Medien in gegenwärtigen digitalen Kulturen geworden. Ist es vielleicht sinnvoller, von der „Plattformgesellschaft“ anstelle von der „Netzwerkgesellschaft“ zu sprechen? (Wenn man den lästigen Singular nicht überbetont.) Oder führt der Weg vom Netzwerk zur Plattform – und wieder zurück?