Protokollieren und Formatieren: Zur Mediengeschichte des credit reports

Der Beitrag folgt protokollarischen Schreibpraktiken, die zur Ausbildung der nordamerikanischen Kultur des Kreditgebens beigetragen haben. Er rekonstruiert die institutionelle und medienpraktische Entstehung des credit report im 19. Jahrhundert. Auf dessen narrativen und klassifizierenden Bewertungen von Kreditwürdigkeit beruht, so die These, die Konjunktur des prestigeträchtigen Bezahlens mit Kreditkarten im 20. Jahrhundert. Die protokollierenden Praktiken – in der Kreditauskunft, aber auch in der Registratur von Transaktionen – führen darin zur Ausbildung von fixierenden Karten- und Datenformaten und Standardisierungen. Diese werden wiederum für die Finanzmedieninteraktion protokollarisch, d.h. vorschreibend wirksam.

Erschienen im Open Access (PDF) in dem von Peter Plener, Niels Werber und Burkhardt Wolf herausgegebenen Buch Das Protokoll.

Die einstmals universelle Maschine

https://en.wikipedia.org/wiki/Magnetic_stripe_card#/media/File:Aufnahme_der_magnetischen_Struktur_eines_Magnetstreifens_auf_eine_EC-Karte_(Aufnahme_mit_CMOS-MagView)2.jpg

 

In Michel Serres’ 1989 erstmals erschienenen Elementen einer Geschichte der Wissenschaften steht der Computer am Ende einer Vielzahl von Verzweigungen im Netz aller möglichen Wissens- und Wissenschaftsgeschichten. Seine Bedingung liegt dabei nicht nur in allen Netzwerken, die ihm vorausgehen. Serres lässt keinen Zweifel daran, dass der Computer zu jenen Maschinen gehört, die man Universalwerkzeuge nennt – „da sie vom Werkzeug die Effizienz und vom Universellen die Wissenschaftlichkeit geerbt haben“.[1] So weit, so vertraut, könnte man mit etwas zu viel Gewissheit meinen: Rechenmaschinen sind eben spätestens seit Turings tape als universelle Maschinen konzipiert worden. Aber bereits Serres stellt nicht die Philosophie und Mathematik des Rechnens mit symbolischen Maschinen in den Vordergrund: Weder Leibniz und Pascal, noch Turing und von Neumann hätten die Rechenwerke komplett im Kopf gehabt, bevor sie sich ihrer konkreten Realisierung widmeten. Im Gegenteil hält Serres hier die praktische Realisierung des Digitalrechners durch Forschung hoch:

„Wer forscht, weiß nicht, sondern tastet sich vorwärts, bastelt, zögert, hält seine Entscheidungen in der Schwebe. Nein, er konstruiert den Rechner von übermorgen nicht dreißig Jahre vor seiner Realisierung, weil er ihn nicht voraussieht; während wir, die ihn kennen und fortan benutzen, leicht dem Fehlschluß erliegen, er hätte ihn vorausgesehen. In Wirklichkeit ist es mit ihm wie mit allen Akteuren dieses Buches – den individuellen und den kollektiven, den materiellen wie den intellektuellen: sie sind nur Darsteller seiner Verzweigungen und seines schwankenden Netzes.“[2]

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CAIS-Report: Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens

Cover CAIS Report Geschichte und Theorie des digitalen BezahlensDieser CAIS-Report ist eine Vorschau für »Das Kreditkarten-Buch: Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens«. Es wird 2024 im Berliner Kulturverlag Kadmos erscheinen. Weite Teile des Texts sind durch das Bochumer Fellowship überarbeitet und geschrieben worden. Mein herzlicher Dank gilt dem gesamten Team des Center for Advanced Internet Studies und dem Siegener Sonderforschungsbereich Medien der Kooperation.

Die Kapitel des Buches tragen folgende Titel (Stand November 2020):

1. Andere Medien des Geldes
2. „Debtor Nation“ USA
3. Europas Ringen um die Zahlungssysteme
4. Globalisierungen der Kreditkarte
5. Digitales Bezahlen und die Blockchain
6. Die neue Öffentlichkeit des Geldes. „CAIS-Report: Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens“ weiterlesen

Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik

Cover Identifizieren: Theorie und Geschichte einer MedienpraktikRegistrieren, Identifizieren und Klassifizieren sind Praktiken, die in digitalen Kulturen kaum mehr zu trennen sind. Anhand der Mediengeschichte des Passes und der Kreditkarte geht der folgende Text der Frage nach, wie immer neue infrastrukturelle Kaskaden des Identifizierens entstehen und welche öffentliche Brisanz den entsprechenden Datenverarbeitungen innewohnt. Beim Identifizieren handelt es sich um eine ko-operative Medien- und Datenpraktik, an der stets mehr als eine Person beteiligt ist. Sie involviert von Anfang an menschliche Körper samt ihrer semiotischen Ressourcen und koppelt diese mit bürokratischen Aufschreibesystemen. Auch die neuesten digitalen Prozeduren greifen bevorzugt auf Gesichter und Fingerabdrücke zu: Biometrie versucht, den für das Identifizieren konstitutiven Abstand zwischen Konten, Körpern und Personen aufzuheben.

„Identifizieren: Theorie und Geschichte einer Medienpraktik“ ist in der Working Paper Series des Siegener Sonderforschungsbereichs Medien der Kooperation erschienen. Es handelt sich um einen Preprint des Wörterbucheintrags „Identifizieren“, der im dritten Band des „Historischen Wörterbuchs des Mediengebrauchs“ publiziert werden wird. Ich danke den Herausgebern Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann für diese Möglichkeit. Entstanden ist der Text in und mit der Werkstatt Praxistheorie des SFBs. Wichtig war die Diskussion zur banal surveillance mit Asko Lehmuskallio, Paula Haara und Heiki Heikkilä während eines Aufenthalts in Tampere, Finnland. Jenny Berkholz, Sebastian Randerath und Tobias Conradi haben die Publikation des Working Papers dankenswerterweise mit möglich gemacht.

Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens

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Ab April werde ich für ein halbes Jahr am Bochumer Center for Advanced Internet Studies (CAIS) zu Gast sein. Mein Forschungsvorhaben widmet sich Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens. Es geht davon aus, dass die Digitalisierung der Zahlungssysteme in drei großen Schüben stattgefunden hat, angefangen mit erstens dem Aufbau computerbasierter Infrastrukturen zum Prozessieren von Kreditkartenzahlungen ab 1968, fortgesetzt mit zweitens der Standardisierung von chip-basierten Bezahlkarten in den 1990er Jahren und drittens mit der weiten Etablierung mobiltelefonbasierter Bezahlsysteme und neuer digitaler Währungen seit 2010. Diese bereits über 50-jährige Mediengeschichte des digitalen Bezahlens rekonstruiert das Forschungsprojekt vor dem Hintergrund der aktuellen Konvergenz mobiler Zahlungssysteme mit Blockchain-Infrastrukturen, wie sie exemplarisch durch das von Facebook begründete Libra-Konsortium herbeigeführt werden soll.

Während die Infrastrukturen, die auf Plastikdebit und -kreditkarten basieren, als „legacy systems“ weiterhin einen Großteil der digitalen Transaktionen weltweit bestimmen, befindet sich die Welt der Zahlungssysteme aktuell in einer fundamentalen medientechnologischen Transformation. Seitdem der Bitcoin als dezentrale Kryptowährung und Spekulationsobjekt – trotz oder wegen enormer Wertschwankungen – reüssiert hat, haben „Financial Technologies“ bzw. Fintechs Konjunktur. Deutschland erreichen die Innovationen im digitalen Bezahlen – z.B. in Gestalt neuer, app-basierten Banken – in der Regel mit Verspätung. Das Forschungsprojekt wird zeigen, dass diese im internationalen Vergleich langsame Transformation der Medienpraktiken des Bezahlens typisch für die nachkriegsdeutsche Finanzmediengeschichte ist. So opponierten gegen die Zahlung per Kreditkarte Privat-, Genossenschaftsbanken und Sparkassen seit Beginn der 1970er Jahre – zugunsten des Girokontos und des papiernen eurocheque-basierten mobilen Bezahlens. Was im Zuge der Krisendiskurse zum Stand der Digitalisierung in Deutschland oberflächlich als eine Bestätigung von Rückständigkeit erscheinen mag, ist für die medientheoretische Perspektivierung von „multiplicities of money“, die alte und neue Gelder nicht strikt trennt, erkenntnistheoretisch von Vorteil (Guyer 2004; Mauss 2015; Blumentrath u. a. 2019).

Medientheoretisch fokussiert das Projekt daher auf das Verhältnis von Infrastrukturen und Praktiken des Bezahlens. Was (digitales) Geld im Alltag ist, lässt sich nicht geldtheoretisch abstrakt beantworten, sondern im Sinne eines „practice turn“ der Medienforschung (Bergermann u. a. 2020) nur entlang der konkreten Praktiken, Interaktionsordnungen, (digitalen) Infrastrukturen, Interfaces, Buchführungsprozeduren und institutionellen Vollzügen von Rechts- und Regelsystemen. Zu dieser Perspektivierung von Geld als infrastrukturellem Medium gehört spiegelbildlich dessen Charakter als öffentlich-rechtliches Medium, der durch die Digitalisierung des Bezahlens aber fundamental infrage steht. Die mit der Bargeldzirkulation gegebenen Garantien – etwa der Urkundenstatus des Geldscheins (Schröter 2015) – sind in digital-vernetzter Buchführung und app-basiertem Bezahlen kaum mehr abbildbar. Andere Vertrauensmechanismen füllen diese Lücke, führen aber zu Kaskaden des Registrierens und Identifizierens: Immer weitere Nichtreproduzierbarkeits-, Sicherheits- und Zertifizierungsmerkmale kennzeichen die privatwirtschaftlich betriebenen Infrastrukturen des digitalen Geldes. Ihre soziotechnische Prüfbarkeit ist als gesellschaftliches Legitimationsproblem noch kaum erkannt worden, außer im ursprünglichen Design von Blockchains als jederzeit überprüfbaren verschlüsselt-verteilten Transaktionsverzeichnissen. Die Geschichte und Theorie des digitalen Bezahlens soll dafür ein kritisches Bewusstsein schaffen, denn digitale Infrastrukturen verändern den öffentlichen Charakter des Geldes zugunsten der massiven Personalisierung, Datafizierung und Appifizierung von Bezahlmedien. Folgende Fragestellungen instruieren die Arbeit im Detail:

  • Wie lassen sich die drei Transformationen des digitalen Bezahlens medien- und sozialhistorisch kontextualisieren und begründen?
  • Wie konfiguriert sich das Verhältnis von Praktiken und Infrastrukturen des Bezahlens jeweils neu?
  • Wie vollzieht sich die Personalisierung, Datafizierung und Appifizierung des Geldes, d.h. wie werden Konten und Personen als Grundelement sozialer Medien verknüpft?
  • Welche sozialen Stratifikationen, Klassifikationen, Markt- und Kapitalgefüge werden durch die neuen infrastrukturellen Medien des öffentlichen Mediums Geld geschaffen?

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Money, Credit, and Digital Payment 1971/2014: From the Credit Card to Apple Pay

NFC terminal with iPhone 6, video still, 2014The article intertwines the history of the American credit card, its standardization, and interactional realization with the latest developments in payment systems. Understanding both credit cards and systems like Apple Pay or blockchain-based applications as part of an administrative longue durée, it argues for a different understanding of the Internet of Things. It should be understood both as a technical-informational and as an accounting infrastructure, with tensions arising between both segments.

Check out the full text, published in Administration and Society’s special issue on ICT@Administration at https://doi.org/10.1177/0095399718794169.

Credit Card Mobilities

The Swiss Federal Archives have been publishing a video documentation of their „ICT@Admin“ conference. I had the privilege of being a part of this, so I include the video and abstract of my talk here. A complete documentation is also online, and the overall YouTube playlist is highly recommended.

CREDIT CARD MOBILITIES (Sebastian Gießmann, Siegen, March 26 2015)

The talk sketches out a praxeological history of the credit card, with an emphasis on its mediating qualities and operational status within bureaucratical frameworks. Temporal borrowing via credit card is regarded as a highly dynamic social technology that produces emergent topologies through distributed mobile payments. The formative years of the American credit card (1950-1975) are analyzed along with approaches from ethnomethodology (Harold Garfinkel) and actor network theory (Michel Callon). Cooperative media practices are key to understanding the relation between the administrative handling of „accounts“ and emerging social networks. This includes (1) Dining, traveling, and charging, (2) Accounting for trust and credit, (3) Mass mailing and advertising new ways of payment, (4) Building „co-opetitive“ platforms for networks and (5), the digital momentum of credit cards as immutable mobiles.

 

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