Mediengeschichte trifft Science and Technology Studies

Die spät festgestellte Nähe von Science and Technology Studies und historischer Medienforschung hat bisher vor allem zu einer vermehrten Aufnahme der STS in medienhistorische Arbeiten geführt (Gitelman 2013; Gillespie, Boczkowski und Foot 2014; Dommann 2014; Hanke 2014; Hoof 2015). Diese greifen wiederum produktiv auf die infrastruktur- und wissenschaftshistorischen „Klassiker“ der STS zurück (Star 1989; Bud-Frierman 1994; Bowker und Star 1999) und zeichnen sich v.a. durch ein gemeinsames Interesse an historisch-ethnografisch analysierten Informationsinfrastrukturen, bürokratischen und dokumentarischen Praktiken aus. Eine vergleichbare, auf Praktiken fokussierende, infrastrukturorientierte Überkreuzung von STS und Medienforschung wird auch im Bereich der History of Computing und History of Networking vermehrt vorgenommen (Schabacher 2013; Thielmann 2013; Starosielski, Soderman und Cheek 2013; Gießmann 2014; Haigh, Russell und Dutton 2015).

Während dieses jüngst etablierte, gemeinsame Feld produktive und innovative Anschlussmöglichkeiten für die orts- und situationsbezogene Mediengeschichte bietet, bleibt doch eine paradoxe Lage zu konstatieren. Obwohl gerade in der Formationszeit der STS modellartige Studien zur Historizität von Vermittlungsprozessen entstanden sind (Shapin und Schaffer 1985; Law 1987; Star und Griesemer 1989), erreichen aktuelle Studien kaum mehr deren Niveau, oder verzichten zugunsten der empirischen Gegenwartsanalyse auf eine historiografisch-empirische Vorgehensweise. Rare Ausnahmen wie Axel Predas historisch versierte Finanzmarktsoziologie und Rebecca Slaytons mustergültige Durchführung der politischen, hardware- und softwaretechnischen Mikrogeschichte des Star-Wars-Raketenprogramms der USA (Preda 2009a; Preda 2009b; Slayton 2012) bestätigen diese aktuelle Vernachlässigung historischer Fragestellungen in den STS. Die frühere Sprachlosigkeit gegenüber dem Aufstieg des World Wide Webs (Star 1999), das die STS-Diagnosen der historischen Arbeiten zu Informationsinfrastrukturen in ungeahnter öffentlicher Form bestätigte, weicht zudem erst in den vergangenen Jahren einer zeitgemäßen Perspektive auf die digital vernetzten Medien (Wajcman und Jones 2012; Passoth und Wehner 2013; Denardis 2014; Russell 2014; Musiani 2015).

Umgekehrt fehlen den meisten kulturtechnikhistorischen und medienarchäologischen Arbeiten oftmals die elementaren sozialtheoretischen Stärken der STS-geleiteten Analysen, darunter die symmetrische Behandlung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, gelungener und gescheiterter soziotechnischer Entwürfe (Bloor 1976), sozialer und technischer Tatsachen (als „gemachte“ Fakten), ihrer kontroversen Aushandlung und fortwährenden „Prüfung“ (Boltanski und Thévenot 2007; Potthast und Guggenheim 2013).

Eine unter diesen Vorzeichen vorzunehmende Revision der Mediengeschichte und Kulturtechnikforschung steht noch weitestgehend aus; ältere Modelle des Medienwandels und der Mediengeschichtsschreibung stehen daher weiterhin auf dem Prüfstand (Schröter 2014). Mit der Kombination von STS und Mediengeschichte stehen insbesondere Maßstabswechsel der Akteure, die potenziell bis hin zu einer logistisch verfassten Verflechtungs- und Globalisierungsgeschichte verfolgt werden können, als Forschungsproblem im Raum (Schüttpelz 2009; Busch 2011; Mann 2012a; Mann 2012b; Rosenberg 2012; Epple und Erhart 2015) Die Überkreuzung von Mediengeschichte und STS entfaltet hierbei erst im Zusammenspiel von Mikroebene, skalierenden bzw. maßstabswechselnden mobilen Praktiken und globalen Netzwerkbildungen ihr ganzes Potenzial.

Diese methodische Grundlagenarbeit kommt prospektiv allen historisch arbeitenden Disziplinen zugute, die sich mittlerweile theoretische und methodische Instrumente der STS aneignen. Dazu gehört eine Kunst- und Bildgeschichte, die lokale Bildproduktion und globale Bildzirkulation erforscht, und dabei kunstsoziologisch auf Klassiker wie Howard Becker (Becker 1982) ebenso wie auf erste Ansätze zu Science and Technology Studies materieller ästhetischer und ethnografischer Produktion (Lehmann 2013; Hensel und Schröter 2013; Bergermann 2015; Thielmann 2016) zurückgreifen kann. Auch die mittlerweile stärker international ausgerichtete, programmatisch und empirisch (Winthrop-Young, Iurascu und Parikka 2013; Steinhauer 2014; Widlok 2015) geschärfte Kulturtechnikforschung kann von der Aufnahme und Übersetzung der Science and Technology Studies mitsamt einer praxistheoretischen Refokussierung nachhaltig profitieren.

Dieser Text ist 2016 als Teil des Fortsetzungsantrag des DFG-Graduiertenkollegs „Locating Media“ an der Universität Siegen entstanden und wurde für diesen Post geringfügig überarbeitet.

Becker, Howard S. 1982. Art Worlds. Berkeley; Los Angeles; London: University of California Press.

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Winthrop-Young, Geoffrey, Ilinca Iurascu und Jussi Parikka, Hrsg. 2013. Special Issue Cultural Techniques. Bd. 6. Theory, Culture and Society 30. Los Angeles: Sage.